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Miscellen.

Ludwig Lemcke.

Vor wenigen Monaten wurde die Universität Giefsen von einem schweren Verluste betroffen. Am 21. September vorigen Jahres starb daselbst Dr. Ludwig Lemcke, Professor der romanischen und der englischen Philologie.

Als des Verstorbenen einstiger Schüler am Gymnasium und Universität, als spaterer Kollege und Freund treibt mich das Gefühl dankbarer Gesinnung, an dieser Stelle mit einigen Worten den Lebensgang des verehrten Mannes zu skizzieren und sein segensreiches Wirken auch weiteren Kreisen noch einmal in die Erinnerung zu rufen.

Im

Ludwig Gustav Konstantin Lemcke wurde am 25. Dezember 1816 zu Brandenburg an der Havel geboren, wo sein Vater, Ludwig Julius Lemcke, anfangs als Apotheker, später als Rentier und Stadtrat lebte. Nach des Vaters Tode zog die Mutter im Jahre 1827 mit dem Sohne nach Braunschweig. Hier besuchte derselbe bis Ostern 1836 zuerst das Gymnasium, dann anderthalb Jahre das Collegium Carolinum, an welcher Anstalt er vor allem die Vorlesungen von Petri, Fr. K. Griepenker! u. a. besuchte. November 1836 siedelte er nach Berlin über. Ohne sich für ein bestimmtes Fachstudium entscheiden zu können, liefs er sich bei der philosophischen Fakultät einschreiben, hörte die Vorlesungen von Bopp, Lachmann, Ranke, Ritter, Homever u. a. und gewann eine reiche wissenschaftliche Ausbildung. Nachdem er Berlin 1840 wieder verlassen hatte, verheiratete er sich noch im selben Jahre mit Mathilde Pfaff, einem jungen, durch Geist und Schönheit hervorragenden Mädchen, und liefs sich mit ihr, nach einem kurzen Aufenthalte in Uslar, dauernd in dem liebgewonnenen Braunschweig nieder. Jahre des reinsten Glückes folgten. Umgeben von der Sorgfalt einer geliebten Frau und beglückt durch die erehrung einer heranwachsenden Tochter, lebte er hier in anregendem Verkehre mit vielseitig gebildeten Freunden, zu denen die Löbbeke, v. Meier, Graf Görtz-Wrisberg u. a. gehörten, und gab sich ganz nach Neigung den verschiedensten wissenschaftlichen Arbeiten hin. Vor allem waren es die Litteraturen der romanischen Völker und der Engländer, denen er ein gründliches, tief eingehendes Studium widmete. Langsam und in aller Stille reifte die Hauptfrucht seiner damaligen wissenschaftlichen Thätigkeit heran. Der Umstand, dafs die Beschaffung wichtiger spanischer Texte damals in Deutschland mit den grofsten Schwierigkeiten verbunden war, veranlafste ihn im Jahre 1853, Paris für die Dauer eines Jahres als Aufenthaltsort zu wählen, um dort die kaiserliche Bibliothek für sein Handbuch der spanischen Litteratur" zu be. nutzen. Es folgte diesem grofs angelegten Werke noch eine Reihe selb

ständiger Arbeiten und kritischer Besprechungen, die wir hier in einer chronologisch geordneten Übersicht zusammenstellen.

*

Ehe wir die äufseren Begebenheiten seines Lebens weiter verfolgen, sei uns gestattet, bei seinen Arbeiten noch einen Augenblick zu verweilen. Was ihn an der Ausführung zabl- und umfangreicherer Werke hinderte, war zunächst der weiter unten noch näher zu besprechende harte Schicksalsschlag, der aus heiterem Himmel auf ihn niederführ und ihn, den Widerstrebenden, dem ruhigen Gange wissenschaftlicher Studien entrifs waren widrige Stürme, die sein Lebensschifflein jahrelang zwischen den Klippen der Not umhertrieben. Als zweiter schwerwiegender Grund läfst sich der Umstand anführen, dafs er erst spät, d. h. im 47. Lebensjahre, in die akademische Laufbahn eintrat. Diesen Umstand darf eine gerechte Würdigung seiner wissenschaftlichen Thätigkeit nie aus den Augen verlieren.

es

Der Mafsstab unserer Beurteilung mufs ein anderer werden, wenn wir es mit einem Manne zu thun haben, der von vornherein den akademischen Beruf als Lebensziel betrachtet. Schliefslich mufs daran erinnert werden, dafs in späteren Jahren seine Zeit vollauf in Anspruch genommen war durch die Herausgabe des von Adolf Ebert und Ferdinand Wolf begründeten hochgeschätzten Jahrbuchs für romanische und englische Litteratur“, welches er im Januar 1865 übernahm und zwölf Jahre hindurch fortführte. Er erweiterte das Programm des Jahrbuches dahin, dass es seit 1865 auch rein philologischen Untersuchungen seine Spalten öffnete und dem streng philologischen Teile der englischen und der romanischen Sprachen jene Berücksichtigung angedeihen liefs, welche der augenblickliche Standpunkt der Wissenschaft erheischte. Wie ihm die Herausgabe dieser Zeitschrift viel Mühe und manche Unannehmlichkeit bereitete, so hinderte sie ihn auch, wie gesagt, an der Ausführung gröfserer wissenschaftlicher Arbeiten. Aufser den oben genannten Werken und Abhandlungen übersetzte er noch Macaulays Geschichte von England und die Schriften von Fernan Caballero. Die von ihm im Laufe seines Lebens verfafsten Schriften zeigen, dafs

1885. Handbuch der spanischen Litteratur.

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Bd. I. Die Prosa. Bd. II. Die epische, lyrische und didaktische Poesie. Bd. III. Das Drama. 1859. Cintio dei Fabrizii. Ein Beitrag zur Geschichte der Monstrositäten der Litteratur und der erzählenden Dichtung in Italien. (In Eberts Jahrb. I. 298-320.) 1862. 1) Über einige bei der Kritik der traditionellen schottischen Balladen zu beobachtende Grundsätze. (Ebendas. IV, 1-16, 142-158, 297-311.) 2) Zur Textkritik und Erklärung der Divina Commedia. (Ebendas. IV, 70-78.) 3) Anzeige von Krafft, Dantes lyrische Gedichte. (Ebendas. IV, 346-350.) 1864. Shakspere in seinem Verhältnisse zu Deutschland. Leipzig, Vogel. 1865. Games, Bruchstücke. Marburg, Elwert. 1866. 1) Barlow, Contributions to the study of the Divina Commedia, 2) Morris, Early English Alliterative Poems etc., 3) Un mucchietto di gemme. (In Eberts Jahrb. VII, 205-216, 344-347, 360.) 1867. 1) Morris, Chaucer-Edition; 2) d'Ancona, La Storia di Ottinello e Giulia; 3) A. Pucci, In lode di Dante; 4) E. Zoller, Cervantes' Don Quijote; Rapp, Spanisches Theater; Eitner, Miltons Verlorenes Paradies. (Ebendas. VIII, 94-111, 429-430, 431, 432-437.) 1868. K. Elze, Chapman's King Alphonsus. (Ebendas. IX, 106-113.) 1869. Mussafia, Über eine spanische Handschrift der Wiener Hofbibliothek. (Ebendas. X, 236-240 ) 1870. 1) Pio Rajna, Morgante etc.; 2) d'Ancona, La Rappresentazione drammatica etc.; 3) Michaelis, Tres Flores del Teatro antiguo español. (Ebendas. XI, 225-231, 324-334.) 1871. 1) Arber's English Reprints; 2) Spenser Society; 3) Hazlitt, Roxburghe Library; 4) Grosart, Fuller's Worthies Library; 5) C. Michaelis, Romancero del Cid; 6) Scartazzini, La Gerusalemme liberata di T. Tasso. Ebendas. XII, 73-91, 415-417.— 1873. Die Wechselbeziehungen zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften. Akademische Festrede, gehalten am 17. Juni 1873. 4o.

er die litterarischen und sprachlichen Erscheinungen nicht von einem einseitig specialistischen Standpunkt aus betrachtete, sondern mehr von demjenigen eines das grofse Ganze, das wirklich Bedeutende nie aus den Augen verlierenden feinsinnigen Kritikers und Litterarhistorikers. Des öfteren hat er, sowohl mündlich als auch in Briefen, dem Schreiber dieser Zeilen sich dahin ausgesprochen, dafs er keinen Gefallen an Arbeiten finde, die „nach einem gewissen Schema, man möchte sagen, einem feststehenden Rezept, angelegt, mit minutiöser Genauigkeit z. B. den Gebrauch einer einzelnen grammatischen oder dialektischen Eigentümlichkeit bei einem einzelnen, oft unbedeutenden, ja obskuren Autor verzeichnen und das so gefundene dürftige Resultat als wissenschaftlich wichtige Entdeckung hinzustellen belieben. Allzu häufig stumpft sich bei dem Verfasser solcher Arbeiten das Gefühl für das wirklich Hervorragende ab; der klare Überblick über das Ganze geht ihm dabei verloren."

Obgleich daher Lemcke, wie P. Meyer sehr richtig bemerkt, kein Romanist in der jetzigen Bedeutung des Wortes war, so erkennt man doch an den Früchten seiner wissenschaftlichen Thätigkeit einen vielseitig beanlagten, mit reichem Wissen ausgestatteten Geist, einen scharfen kritischen Blick, ein feines sicheres Gefühl für das dichterisch Schöne und Hervorragende, wo immer es nur in die Erscheinung tritt. Denn Lemcke war in den Litteraturen der romanischen Völker nicht weniger bewandert als in denen der Engländer und der Deutschen. Und wie er einerseits die neuere und neueste Zeit in den Bereich seiner Studien zog, so war er andererseits auch auf dem schwierigen und weitverzweigten Gebiete der mittelalterlichen Schriftwerke ein zuverlässiger Führer. Trefflich kamen ihm diese Eigenschaften und Kenntnisse zu statten bei der Abfassung seines Handbuches der spanischen Litteratur ein Werk, das auch jetzt noch als das beste seiner Art gilt, bei seinem Erscheinen im Jahre 1855 ein nicht gewohnliches Interesse erregte und dem Verfasser schnell einen geachteten Namen in der Gelehrtenwelt eintrug.

Was ferner seine kleineren Anzeigen und kritischen Besprechungen der Werke anderer charakterisiert, das ist das liebevolle Eingehen auf den Gegenstand, der feine weltmännische Ton, in welchem er die Ansichten Andersdenkender vorfuhrte oder widerlegte. Was uns jetzt nicht selten in ahnlichen Arbeiten der jüngeren Generation so unangenehm und störend entgegentritt, das Sichgeltendmachen der eigenen Persönlichkeit, das Betonen kleiner Mängel und Versehen, um die eigene Gelehrsamkeit in ein möglichst günstiges Licht zu stellen, der Ton anmafsender Überlegenheit das alles war seinem einfachen, geraden Wesen absolut fremd und unsympathisch. Wie im persönlichen Verkehr, so war auch in seinen Schriften liebenswürdige Urbanität der Charakterzug, welcher ihn allen, die ihn kannten, so lieb und teuer machte. Hierin war er ganz unserem Altmeister Diez, dem Begründer der romanischen Philologie, ähnlich: dieselbe „anima gentile", dieselbe einfache Bescheidenheit, verbunden mit der schärfsten Klarheit und Bestimmtheit der Ansichten, dasselbe Wohlwollen gegen junge aufstrebende Kräfte, dieselbe aufrichtige Anerkennung aller, auch der bescheidensten, Leistungen, sofern sie die Wissenschaft zu fördern geeignet

waren.

In der praktischen Handhabung der modernen Sprachen hatte er es zu einer seltenen Meisterschaft gebracht. Vor allem sprach und schrieb er das Französische und das Englische mit einer bei Ausländern mustergültigen Gewandtheit.

Kehren wir noch einmal zu den äufseren Ereignissen seines Lebens zurück. Eine schwere Prüfung stand ihm bevor. Sorge, bedrückende Sorge

*Romania 1884, XIII, S. 636.

um das tägliche Brot klopfte an die Thür des bis dahin vom Schicksal Verwöhnten. Bis Mitte der fünfziger Jahre hatte er in sehr behaglichen, ja glänzenden Verhältnissen gelebt. Da sah er sich plötzlich, infolge ungunstiger Konjunkturen, von bedeutenden Verlusten bedroht. Ein Freund hätte ihn im kritischen Momente retten können. Derselbe verweigerte ihm aber das nötige Darlehen, und Lemcke verlor mit einem Schlage sein nicht unbeträchtliches Vermögen von mehr als 200 000 Mark. Er befand sich vis-à-vis de rien !

Haus und Hof wurden verkauft. Ja, er mufste sich sogar entschliefsen, den gröfsten Teil seiner herrlichen, mit feinem Verständnis und grofsen Opfern angelegten Bibliothek zu veräussern. Blutenden Herzens sah er sie scheiden, die langjährigen, treuen Genossen seines Studierzimmers, jene wertvollen Ausgaben seltener, schwer zugänglicher Werke. Mit männlicher Ergebung trug er das ihm und den Seinen auferlegte schwere Schicksal. Alle mir aus sicheren Quellen gewordenen Mitteilungen stimmen darin überein, dafs er den Verlust seines Vermögens in liebenswürdigster Fassung, mit heiterem Gleichmut trug, und in seinem Wesen durchaus der Alte blieb. Er richtete sich einfach ein und arbeitete jetzt ebenso freudig, um davon zu leben, wie früher zum Vergnügen. Mit tatkräftiger Energie machte er der Vierzigjährige sich an die Beschaffung neuer Existenzmittel. Bei seiner allgemein anerkannten Tüchtigkeit konnte es ihm nicht schwer fallen, angemessene Beschäftigung zu finden. Von früh bis spät war er mit schriftstellerischen Arbeiten beschäftigt, oder mit dem Erteilen von Unterricht sowohl privatim, als auch an verschiedenen öffentlichen Anstalten, vor allem an dem Collegium Carolinum, dessen humanistische Abteilung damals noch bestand, ferner an der höheren Töchterschule und in den beiden obersten Klassen des humanistischen Gymnasiums. Ilier lernte ich ihn im Jahre 1860 kennen. Einem Manne, wie Lemcke, war es leicht, sich das Vertrauen und die Anhänglichkeit seiner Schüler zu erwerben. Wir alle blickten an ihm mit Verehrung und Bewunderung empor. Seine ihn auszeichnende Herzensgüte und sein gewinnendes Wesen einerseits, seine umfassende Gelehrsamkeit andererseits imponierten uns derart, dafs wir von ihm zu sagen pflegten: „Er ist zu gut und zu gelehrt für uns; er gehört an eine Universität." Niemand von uns ahnte aber, dafs sich ihm wirklich noch ein Feld höherer Thätigkeit eröffnen sollte! Da trat wieder eine in doppelter Beziehung überraschende Wendung in seinem Leben ein. Es fiel ihm ein nicht unbedeutendes Erbe zu - man sprach von mehr als 100 000 Mark und zugleich wurde ihm die noch gröfsere Genugthuung zu teil, an eine deutsche Hochschule berufen zu werden. Er übernahm im Jahre 1863 den durch Eberts Fortgang von Marburg daselbst erledigten Lehrstuhl für romanische Philologie. Hier wirkte er in erfolgreicher Weise von Ostern 1863 bis Herbst 1867, dann in der Nachbaruniversität Giefsen, welcher er trotz mehrfacher ehrenvoller Berufungen, wie 1873 nach Breslau und 1874 noch einmal nach Marburg, bis zu seinem Tode treu blieb. Wie sein Landesherr seine Verdienste durch Verleihung des Ritterkreuzes Philipps des Grofsmütigen ehrte, so übertrug ihm das Vertrauen seiner Kollegen das Rektorat der Universität, welches er 1873-1874 verwaltete.

Am 17. Juni 1873 hielt er die Festrede. Da der von ihm bei jener Gelegenheit behandelte Gegenstand die Wechselbeziehungen zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften auch für weitere Kreise von Interesse ist, so dürfte eine gedrängte Wiedergabe seiner Ausführungen manchem nicht unwillkommen sein.

Die durch die menschliche Schwäche notwendig gewordene Trennung aller wissenschaftlichen Bestrebungen in verschiedene Gebiete hat den Nachteil, dafs sie den Blick auf das Ganze und damit die Erkenntnis des inneren Zusammenhanges der Teile, der Einheit der Wissenschaften erschwert, wohl gar unmöglich macht. Die spekulative Philosophie glaubte den Zusammen

hang der Dinge erklären, die erstrebte Wahrheit aus dem reinen Gedanken konstruieren und somit das Rätsel der Welt lösen zu können. Aber dieser Versuch ist noch jedesmal mifslungen. Zahllose philosophische Systeme haben einander abgelöst, das spätere hat immer dem vorhergehenden das Grablied gesungen, um bald darauf selbst wieder diese letzte Ehre zu empfangen. Obgleich daher die wissenschaftliche Forschung die philosophischen Systeme verwirft, so darf sie doch auch fernerbin die Philosophie als ihre Führerin und Wegweiserin nicht von sich weisen, zugleich mufs sie aber in den durch unmittelbare Beobachtung oder durch Kritik gewonnenen Thatsachen die feste Grundlage suchen, auf welcher allein der Bau der menschlichen Erkenntnis sich erheben kann. Thatsachen zu sammeln und zu ordnen, vom Einzelnen zum Allgemeinen aufzusteigen, in der scheinbaren Zufälligkeit und Willkür das Gesetz zu finden, kurz, von der Erfahrung auszugehen und auf der Staffel derselben allmählich in das Gebiet zu gelangen, wo die Spekulation beginnen darf, weil sie sich dort von selbst aufdrängt das ist die Forderung, welche heute mit Recht an jede Art der Forschung nach Wahrheit gestellt wird. Damit ist aber die Aufgabe, welche die spekulative Philosophie allein vergebens zu lösen versucht hat, in die Hände der einzelnen Wissenschaften, welche einen realen Inhalt haben, zurückgelegt.

Seitdem nun die einzelnen Wissenschaften den Glauben an die Allmacht der reinen Spekulation verloren haben, ist ihnen auch das Gefühl der Einheit abhanden gekommen. Wie sie aufserlich getrennt nebeneinander stehen, so fühlen sie sich nicht mehr als Glieder eines Leibes - ja, einzelne stehen sich sogar mit dem Gefühle eines schroffen Gegensatzes gegenüber. In diesem Falle befinden sich die Geisteswissenschaften und die exakten Wissenschaften.

Wie die Geisteswissenschaften, vielfach noch befangen in den Banden bestimmter philosophischer Systeme, die Berührung mit der Welt der rein materiellen Vorgänge scheuen, so empfindet der Naturforscher Scheu vor der Welt des reinen Gedankens. Durch eine solche Haltung wird aber auf beiden Seiten der wissenschaftliche Fortschritt verzögert. Vielmehr müfsten die beiden grofsen dem Geiste und der Materie gewidmeten und miteinander in Wechselbeziehung stehenden Wissenschaften sich gegenseitig unterstützen und voneinander empfangen. Die Folge dieser gegenseitigen Unterstützung kann keine andere sein als die einer allmählichen Ausdehnung ihrer Gebiete und schliefslichen Annäherung zwischen denselben. Zu einer solchen wird es kommen, wenn man bedenkt, welch innige Verbindung im Grunde zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaft besteht.

Die Wissenschaft des Philologen hat der des Naturforschers vorgearbeitet. Denn die Aufgabe der Philologie beschränkt sich nicht nur auf die Ausbildung der Sprache, auf die Aufstellung sprachlicher Gesetze zu praktischen Zwecken; ihre höhere Aufgabe besteht auch vor allem darin, die Erkenntnis des geistigen Lebens eines ganzen Volkes oder einer Volksgruppe zu fördern und in dem Medium ihrer Bestrebungen, in der Sprache, liegt die Brücke zu der Naturforschung vorgezeichnet. Obgleich nun auch die Philologie dem materiellen Elemente der Sprache, dem Laute, stets Rechnung trug, so nahm sie ihn doch nur als einfaches Faktum hin, ohne ihn einer weiteren Untersuchung zu unterwerfen. Sobald aber die neben der Philologie entstehende und sich aus ihr entwickelnde vergleichende Sprachwissenschaft oder Linguistik anfing, die natürlichen Bildungs- und Entwickelungsgesetze des lautlichen Teiles der Sprache zu untersuchen, traten auch die Sprachstudien den reinen Naturwissenschaften so nahe, dafs beide Gruppen sich bereits um das Besitzrecht an der neuen Disciplin streiten. Da in dem geistigen und dem körperlichen Elemente in der Sprache eine scharfe Grenze nicht besteht, beide vielmehr auf das innigste miteinander verbunden sind, so gehört auch die Linguistik weder ganz den Archiv f. n. Sprachen. LXXIV.

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