In einer Zeit, die die abschäßige Beurteilung idealer Ziele fast für eine Tugend, wenigstens für eine Notwendigkeit hält, ist die Erscheinung, daß frühere Zöglinge einer höheren Schule ohne äußeren Anlaß sich zu einer Erinnerungsfeier verjammeln, besonders erquicfend. Sie kamen freiwillig, lediglich um mit den Freunden ihrer Jugendzeit zu gedenken, um der gemeinsamen Bildungsstätte dankbare Anhänglichkeit zu erweisen, auch um der begehrlichen und unruhig verrauschenden Gegenwart ein Bild herzlicher Zufriedenheit vorzuhalten. Auch die ältesten der Überlebenden wurden zu lebendiger Teilnahme aufgerufen und siehe, es fanden sich am 27. September zu Helmstedt 180 Schüler des dortigen Gymnasiums aus alter und junger Zeit zusammen, Beamte und Pfarrer, Ärzte und Forstleute; selbst das Heer und der Bergbau waren vertreten. Unter ihnen noch drei, die vor mehr als siebenzig Jahren in die Anstalt eingetreten waren, und wer selbst zu kommen verhindert war, der grüßte durch den Telegraphen, der freilich während so langer Zeit sich zu einem bequemen Verkehrsmittel ausgebildet hatte. Das zweitägige Fest verlief in bekannten Bahnen: zunächst Umschau in den altgewohnten Straßen und der reichbeflaggten Stadt, deren bauliche Eigenart in der neugewonnenen Sauberkeit mehr als vordem hervortrat, auch Besuch des neuen Schulhauses, an dessen Weihe manche der diesmaligen Festgäste schon vor achtzehn Jahren teilgenommen hatten. Dann am Abend der Kommers, der nicht nur die engeren Altersgruppen, sondern alle miteinander in frohem Singen und Reden verband und die ohnehin offenen Herzen in der Freude des Wiedersehens, in dem Labsal der Erinnerung zu gemeinsamer Freude aufschloß. Am Haupttage wanderten unter reicher Teilnahme der Stadt, auch der Frauen, die Schulgenossen in die schöne Aula, ein Vermächtnis der unvergeßlichen Julia Carolina, in der uns der Schülerchor mit Kobolts Tedeum und Beethovens bekanntem Lobgesang begrüßten. Zwischen beiden hieß der Direktor, Schulrat Drewes, die alten Schüler als lebendige Zeugen für die Wirksamkeit des Gymnasiums willkommen, dabei die leftlich Heimgegangenen namentlich erwähnend, unter ihnen mit verdientem Preise Rudolf Leucart und den treuen Alfred Fleckeisen, dem die Prima an seiner Wohnstätte eine Gedenktafel gewidmet hat. Wir älteren erinnerten uns mit einigem Stolz, daß auch Ahrens und Schneidewin, Bethmann und der leider früh verstorbene Gottl. Heyer unserer Schule ihre Vorbildung verdankten. Dann wies der Schulrat Koldewey aus Braunschweig, auch ein Mitschüler, mit herzlichen Worten auf die Lehrer aus so langem Zeitraume und mahnte die Jektlebenden, Das humanistische Gymnasium 1901. I. 1 nie von den sittlichen und wissenschaftlichen Idealen 311 laffen, die für uns seit den Schuljahren vorbildlich gewesen seien und so viele zum Kampf für Sitte und Recht, zur Arbeit im Leben und der Wissenschaft gestählt hätten. Für die drei ältesten unter uns war es ein Augenblick nicht nur der Rührung, sondern auch freudiger Zuversicht, als zum Schluß der Feier die Prima vortrat und in unsere Hand das Gelőbnis steter Treue gegen diese Ideale ablegte. Vielleicht nie mehr als in diesem Vorgang habe ich empfunden, wie vielen Dank ich meiner alten Schule schulde. Alles, was etwa von Erinnerung an ihre Mängel noch haftete, verschwand in dem Händedruck, der das Ulter und die frische Jugend in diesem gemeinsamen Bekenntnis zum Vaterland, zu deutscher Sitte, zur Berufstreue zu= sammenband. Der weitere Verlauf ist bald erzählt: nach der ernsten Feier das Frühstück teils in größerer Zahl inmitten schöner Landschaft, teils in kleinerem Familienkreise. Nachmittags das Festmahl in ungetrübter, stetig flutender Freude mit vielen und bunten Trinksprüchen, die alle von gegenseitigem Verständnis und von ungeschminkter Liebe zu unserer Schule zeugten; abends der Ball, der die Festfreude auch in die Herzen der heutigen Jugend senkte. Kein Wunder, daß der Vorsak laut wurde, was einmal so schön gelungen, zu einer lebendigen Einrichtung zu machen und in fünfjährigen Zwischenräumen zu wiederholen! Ich hoffe, daß dieser Entschluß den Urhebern des Festes den besten Lohn für ihre vielfachen und allerseits dankbar anerkannten Mühen gewähren soll. Für mich liegt hierin die Bürgschaft für den Fortbestand der Sinnesart, die wir Alten aus der Schulzeit in das Leben hinübergenommen haben; und wenn die Kunst lang ist, so ist nicht nur nach Lobecks Wort das Leben, sondern auch die Schule ewig. Auch sonst läßt sich von solcher und ähnlicher Erinnerungsfeier alles Gute erwarten: wie gern sähe ich das allen sächsischen Fürstenshulen eigentümliche Ecce, das den im Laufe des Schuljahres abgeschiedenen alten und jungen Zög= lingen nachklingt und weiter in der Latina zu Halle und im Pädagogium zu Putbus heimisch geworden ist, auch auf andere Schulstätten verpflanzt! Habe ich etwa in dem Gefühle jener gemeinsamen Sinnesart geirrt ? Habe ich den erziehenden Einfluß unserer Schule zu hoch eingeschäßt, der Schäden unserer Jugendbildung vergessen? Entsprang die Vorausseßung eines idealen Bandes unter uns, deren Schuljahre um Menschenalter auseinander liegen, mehr einer dankbar angeregten Phantasie als der Wirklichkeit? Auch bei nachträglicher Prüfung aller dortigen Eindrücke komme ich immer wieder darauf zurüc, daß troß des starken Wechsels unter den Wegen und Mitteln unsers Schulunterrichts, troß der im stillen Zwiegespräch nicht verschwiegenen Mängel unserer Leitung wir uns durchaus zu= sammengehörig fühlten. Wir spürten in uns eine gleichartige Anschauungsweise, die hinter oder über unsern Kenntnissen unsere Verwandtschaft kundthat, eine Verwandtschaft mehr des Charakters als des Urteils. Wofür wir alle ungeachtet der angedeuteten Fehler dankbar waren, das war die Selbständigkeit und Freiheit unserer Entwickelung, die unsere Lehrer wenn nicht durchgängig aus wohlbedachter Berechnung, so doch aus Einsicht in den Geist der Jugend und aus weiser Schonung seiner Willenstriebe uns vergönnt hatten. Ob wir jegt gelehrt oder im Leben tüchtig waren, ob in einfacheni, engbegrenztem Beruf oder auf hoher Staffel der staatlichen Ordnung, ob reich oder von beschränkten Mitteln, danach haben wir einander nicht gefragt; ich gestehe, an alles dieses nicht einmal gedacht zu haben. Uns alle beseelte und befriedigte der gleiche Freimut, mit dem wir unserem Empfinden Ausdruck gaben. Ich weiß nicht, ob dies allen so zum Bewußtsein gekommen ist, wie mir; vielleicht hat meine Zugehörigkeit zu einem anderen Staatswesen, der langjährige Schul- und Verwaltungsdienst in größeren Kreisen mein Empfinden geschärft und auch eher zu einem gegenständlichen Urteile befähigt. Aber wenn mich die Liebe zu meiner Schule nicht verblendet hat, so war uns eine freiere Bewegung gestattet, die durch einförmigen und viel beaufsichtigten Unterrichtsbetrieb, durch enge Prüfungsformen nicht verbogen und weniger durch stete Handleitung, als durch den Hinweis auf hohe Ziele und reine Vorbilder gelenkt wurde. Ein strenger Revisor würde uns gegen manche Fächer und Forderungen lässig gefunden und herb getadelt haben. Unsere Lehrer fannten diese Lässigkeit auch; aber wo sie eigenes Streben wahrnahmen, da hüteten sie sich es einzuschnüren oder durch Ablenkung zu dämpfen. Ist diese Freiheit nun so kostbar, daß ihretwillen von allgemeiner Norm abgesehen werden darf? Liegt nicht die Gefahr nahe, daß über jener Lässigkeit, die uns scheinbar ohne Leitung wandeln ließ, der jugendliche Geist sich auf Frrwege verlor und seine Kraft vergeudete, ja selbst fich an Unfleiß und Ungehorsam gewöhnte? Zeitweilig und bei manchen Naturen allerdings. Aber liegt jeßt die Gefahr des Verkommens und der Abstumpfung wenn nicht während, so nach der Schulzeit nicht noch näher für die, so selbständig zu gehen nicht gelernt haben? Oder unter anderem Gesichtspunkt, soll nicht um des künftigen Berufs willen eine bestimmte sorgfältig ausgewählte Gruppe von Kenntnissen und zwar nach vorgeschriebener Methode gleichmäßig allen Schülern übereignet werden? Bis zu einem gewissen Grade und innerhalb eines weiten Rahmens wohl; aber doch nicht allen eben dieselbe Fertigkeit und nicht für jeden auf demselben Wege und in gleichem Maße. Hat unser großer Feldherr den Unterführern statt des Einzelbefehls nur Direktiven erteilt, nach denen sie in selbständiger Wahl der Mittel und unter eigner Verantwortung das Ziel verfolgen durften, so sollte auf rein geistigem Gebiete dasselbe doch dem Lehrer gestattet sein, der nach Bildung und Gewissen nicht nur cum grano salis, sondern cum sale ipso verfahren wird. Und liegt nicht auch in dieser Selbständigkeit des Lehrers und des Schülers ein Geheimnis der hohen Runst, die von so vielen heut invita Minerva zurechtgerügt oder in eine gemeingiltige Form geknetet werden soll ? Ja kaum ein Ge= heimmittel, wenigstens nicht für den, der den Menschengeist als ein lebendiges und einheitliches Gebilde, als eine Energie erfaßt, in der der sittliche Wille mehr bedeutet als einseitige Schärfe des Verstandes oder die Summe nußbarer Kennt niffe, der deshalb den Geist nicht von außen mit buntgemischter Roft füttern, sondern in seinem organischen Wachstum schonen und gesund erhalten will. Gilt 1 nicht auch für den Geist der Spruch des großen Veilfünfilers apôtov tò per Bá TTELY? Nicht zugeschnitten und abgerichtet, sondern gekräftigt und erzogen soll der Geist der Jugend werden; versuchen wir kurz uns vorzustellen, was die Entwickelung des Geistes zur Selbständigkeit bedeutet und welche Frucht hieraus für den Schüler und den Lehrer, für Staat und Gesellschaft erwächst. Die Erziehung zur Geistesfreiheit schließt nicht nur die Beschränktheit, sondern auch die Schrankenlosigkeit aus; sie führt vielmehr zur Fähigkeit der Selbstbes stiminung und das ist ja, was Schelling, wenn auch in mangelhafter Ableitung, als Geburtsstätte und Wesen der Freiheit bezeichnet hat. Diese Freiheit bringt den Mut, den Aufgaben des Lebens und der Wissenschaft ins Auge zu schauen und sie im Vertrauen auf die eigene ungehemmte Kraft anzugreifen. Ja fie verleiht nicht nur den Mut, sondern auch die Freude am Ringen; sollte dies nicht ganz besonderen Wert in einer Zeit haben, in der große Sophisten die Nichtigkeit des Daseins als die tiefste Erkenntnis, den Willen zum Nichtleben als die höchste siltliche That vorgezeichnet haben? Jene Luft des Kampfes verbürgt die frohe Neigung zum Leben und den Sieg wenn nicht über das äußere Geschic, so doch was mehr wert ist, über uns selbst, über das grundsäßlich Böse, über Zwang und Feigheit, Ehrgeiz und Behagen, über Zwiespalt und Lüge. Es bedarf kaum der Folgerung, daß die erste Frucht dieser Freiheit die Wahrhaftigkeit ist, die nichts mehr fürchtet als den Bann, den die Lüge auf und um uns legt. Zu dieser Mahrhaftigkeit muß aber der Mensch erst erzogen werden; er ist zur Freiheit bestimmt, aber unfrei von Natur und eben deshalb zur Lüge geneigt. Das sieht hier nicht als eine Lehre der Ethif oder Dogmatik; es ist eine Erfahrung, die auch wir in unserer Jugend an uns selbst erlebt hatten. Denn unser Verhalten gegen unsere Lehrer war nicht überall grade und wahr; ich will nicht untersuchen, wo die Schuld der Krankheit lag und welche Ausdehnung sie hatte, aber vielen unter uns ist die Wahrheit erst später nach sittlichem Kampfe gekommen. Ich meine aber auf den Gesichtern der Festgenossen den Sieg erblickt zu haben: der Verkehr war bei aller Bescheidenheit offen, frei von Zwang und Heuchelei, eben deshalb herzlich und so darf ich mich des Glaubens getrösten, daß auch in unserer Schule die Wahrhaftigkeit mehr und mehr die Herzen erobert hat und die Lüge in Verachtung gesunken ist. Wer aber sich frei und wahrhaftig fühlt, was fehlt dem noch zum höchsten Lebensgut, zum inneren Frieden, zum Einklang von Geist und Gemüt, zum Vers trauen auf die eigene Kraft und auf den Sieg der sittlichen Mächte? Denn nur der Freie, der aótápxns ist harmonisch und nur der Harmonische, den innerlich nichts stört, besigt die Vollkraft, welche fortgeseßt ihn und seine Umgebung frei macht. Wenn unsere Jugend zu dieser ovrópxela erzogen wird, so wird sie das mag niemand bezweifeln – zu ihrer und ihrer Lehrer Freude heranwachsen, und das Leben in der Schule wird für beide als unvergängliche Frucht Geistesreife und Geistesbildung bringen, die durch die Masse des Wissens und den Nußwert der Kenntnisse keineswegs ausgedrückt wird. Für beide! Denn jeder Lehrer, der seiner Idee voll ist, erfährt täglich und hinlänglich an sich, was er an Bildung durch den Verkehr mit seinen Schülern gewinnt. Auch das follten die bedenken, die uns mit ihren kleinen Besserungsmitteln bedrängen, ohne die Schmerzen und Freuden des Lehrers selbst gekostet zu haben. Unter diesem Gesichtspunkt versteht sich die Umkehrung, die A. Meineke einem vielgehörten Spruche zu geben liebte: Non vitae sed scholae! Würde eine solche Schulerziehung nicht ein Musterbild, ein wahres Ideal sein und würde sie nicht auch den Frieden und die Harmonie des Hauses fördern? Je ernster ich die Aufgabe des Lehramts bedenke, desto klarer erkenne ich, daß die Ers ziehung des Willens, die Stärkung der Kraft, die Bildung zur Sitte Anfang, Mittel und Ende dieser Aufgabe bedeutet was freilich niemand zu leugnen wagt und doch so viele und so laute Kritiker unserer Arbeit leichthin vergessen und vers leben. Wenn aber die Erziehung zur geistigen Freiheit, Wahrhaftigkeit und Harmonie wo nicht die Summe, so doch das legte Ziel der Schulthätigkeit bezeichnet und wenn dieser Grundsaz mit voller Wucht auch das Haus und die staatsbürgerliche Gemeinschaft ergriffe, sollte dies nicht für uns alle das kostbarste Geschenk zum Jahreswechsel sein? Kaum einer unter den ernstgesinnten verkennt, daß unser Volt in dem neuen Jahrhundert vor allem der sittlichen Reinigung und Sammlung bedürfe; beginnen wir hiermit bei der Jugend und fassen das Idealbild in seiner ganzen Strenge und Reinheit, so werden wir hieran auch den sichersten Prüfstein für die Wahl der Mittel und Wege zu jenem Ziele gewinnen. Ich fürchte nicht, so grausam mißverstanden zu werden, als ob ich das Gymnasium in Helmstedt als das tadellose Vorbild von je und seine Zöglinge als Musterschüler ausgeben wollte. Einen sehr bedenklichen Mißstand aus meiner Jugend habe ich ja unverholen genannt; ich bekenne durch den Anblick meiner jüngeren Mitschüler, durch ihren Freimut, ihre Mannhaftigkeit gerade zu den Gedanken ans geregt zu sein, die ich hier auszusprechen versucht habe. Und wenn ich unserem Feste ein solches Bild entnehmen darf, das nirgends voll verwirklicht ist und doch überall und in allem die volle Wahrheit darstellt, so soll eben mein Dank für jene schönen Tage in der Enthüllung dieses Bildes bestehen. Denn meine Fest- und Berufsgenossen werden an ihm auch ihre Freude haben und den edelsten Stolz in dem Glauben an die Unsterblichkeit ihres Zweds finden, der wie jeder ideale Zweck transscendental und eben deshalb ewig ist, ja nur als ein ewiger sich begreifen läßt. Reinheit des Zwecks, Kraft zum Kampf, nie versiegende Hoffnung auf den Sieg über Unruhe und Unstetigkeit, über Zwang und Berechnung, Schein und Heuchelei, über Ohnmacht und Endlichkeit alles dieses sollte in dem Bilde beschlossen sein und eben dieses Bild sollte uns zu dem Vorsake führen, in seiner Nachprägung nicht auf das Einzelne, sondern auf das Ganze zu sehen, das Unwägbare höher zu schäßen als den weltlichen und wechselnden Nußen, kurz nach den Worten der Schrift nicht hier oder dort hinzugehen und für ein Jahrlang eine Hantierung zu treiben, sondern um für unsere und unserer Schüler Ewigkeit zu arbeiten. Gelingt es uns, für diesen Zweck Verständnis und Kraft zu gewinnen und zu weđen, so dürfen wir vertrauen, daß sich ein Geschlecht von Männern heran |